Wednesday, October 12, 2005

Nicht am "Stolz der List der Gier und des Elends" teilhaben

Auch wer nicht an eine in der Bibel offenbarte göttliche Wahrheit glaubt, dem kann das älteste Buch der Welt dennoch eine nie versiegende Quelle von Lebensweisheiten sein. Das gilt umso mehr, wenn man sich die Mühe macht, die Texte aus den Sprachen heraus zu verstehen, in denen sie zuerst niedergeschrieben wurden (hebräisch im Alten, altgriechisch im Neuen Testament). Dann treten gelegentlich Bedeutungen zutage, die viel tiefschürfender sind als das, was auch in den besten Übersetzungen übrigbleibt.

Leider kann ich beide alten Sprachen nicht und bin daher auf andere angewiesen. Gestern fand ich einen Artikel, der die Geschichte mit dem Sündenfall behandelt und den entsprechenden hebräischen Text erläutert. Und siehe da, die Symbolik der Geschichte wird viel deutlicher.

aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon darfst du nicht essen; denn an dem Tag, da mußt du sterben!

(Genesis, 2, 17)

Drei Probleme hatte ich bislang mit diesem Satz: Warum ein Baum – warum soll "Wissen" von einem Baum kommen? Dann: Warum sollte ein gütiger Gott bloß wollen, daß wir unwissend bleiben? Und: Adam und Eva sind im weiteren Verlauf der Erzählung nicht "an dem Tag" gestorben. Also was nun?

Im erwähnten Artikel erklärt Lloyd Kinder, daß ein Baum sowohl Aufrichtigkeit wie auch Stolz und Hochmut symbolisiert. Der "Baum des Lebens" symbolisiere Aufrichtigkeit, der andere dagegen den Stolz. Das in Gen 2,17 verwendete hebräische Wort für "Erkenntnis" bedeute auch "List". Das Wort für "Gut" kann auch Vergnügen oder Wohlstand bedeuten, das Wort für "Böse" auch Bedrückheit, Gebrechen, Elend.

Man könnte den Satz also auch so lesen: "Aber am Stolz an der List der Gier und des Elends sollst du nicht teilnehmen, denn an dem Tag, da mußt du sterben."

Macht schon mehr Sinn. Doch was ist mit dem Sterben "an dem Tag"?

Offenbar, so Kinder, ist ein spiritueller [oder seelischer] Tod gemeint, auf den der körperliche Tod (kausal) folgt. "Sünde verursacht unseren Tod und Stolz ist eine Sünde, die uns blind macht unserer eigenen Sündhaftigkeit gegenüber. Daher ist Stolz die gefährlichste Sünde."

Also lautet eine hebräische Lesart von Gen. 2, 17 etwa:

"Aber am Stolz an der List der Gier und des Elends, daran darfst du nicht teilhaben; denn an dem Tag, da mußt du seelisch sterben, woraufhin du körperlich sterben wirst."

Tuesday, October 11, 2005

Termin: Europäische Konferenz der Libertarian Alliance und Libertarian International

Am 19./20. November in London.

Hier das Programm und das Anmeldeformular. (Die Seite könnte wohl noch etwas nachformatiert werden, ist aber insgesamt lesbar.)

Hier die Sprecher:
- Mattias Bengston: Statism: The Swedish Model and Its Lessons
- Prof. Gabriel Calzada: The Privatisation of Defense
- Dr. Ben Cosin: National Health Socialism: A Critique
- Prof. Frank Van Dunn: Personal Freedom, Corporate Liberties: An Uneasy Mix
- Dr. Richard Ebeling: Austrian School Economics and the Political Economy of Freedom
- Dr. Sean Gabb: Cultural Revolution and Culture War
- Dr. Syed Kamal MEP: The Dilemmas of a Free Trade Liberal in the European Parliament
- Sacha Kumaria: Think Tanks and the Movement for Liberty
- Christian Michel: Mafiosi and Oligarchs: The Making and the Unmaking of a Russian Legend
- Dr. Julian Morris: The Myth of Global Warming
- William Thomas: Ayn Rand and the Values of Liberty

Zusätzlich gibt es am Samstagabend ein Bankett mit einem Gastredner und der Verleihung diverser "Liberty Awards".

Sunday, October 09, 2005

Die Frivolität des Bösen

Warum trauen sich Menschen, vor allem Frauen, die sich während des Zweiten Weltkriegs in England des Nachts, in Zeiten der Verdunkelung, auf der Straße sicher fühlten, heute nach Sonnenuntergang kaum noch nach draußen? Warum wurde im Jahr 1921 ein Kriminalfall pro 370 Einwohner von England und Wales registriert, heute jedoch einer für alle 10 Einwohner?

Theodore Dalrymple, ein Psychotherapeut, der sich auf die Behandlung von Gefängnisinsassen spezialisiert hat, versucht nach 14 Jahren Tätigkeit in diesem Bereich eine Antwort. Was er da an Anekdoten zutage fördert, eine Momentaufnahme der häßlichen Unterseite der westlichen Gesellschaft am Extrembeispiel Großbritannien, läßt einen erschaudern. Hier geht es mir aber um seine Erklärung für die Lage, in der wir uns befinden.

Dalrymple vergleicht zwar seine Erfahrungen mit den Gewaltexzessen in Diktaturen oder Bürgerkriegsgebieten und läßt keinen Zweifel daran, daß diese weitaus schlimmer sind als die in den zivilisierten, demokratischen Staaten des Westens, stellt aber resigniert fest:


Ich hatte optimistischerweise angenommen, daß in Abwesenheit politischer Deformationen [wie Diktatur oder Bürgerkrieg], weitverbreitete Bösartigkeit ein Ding der Unmöglichkeit sei. Ich erkannte bald, daß dies eine Fehleinschätzung war.

[. . .]

Das Ausmaß der Bösartigkeit eines Menschen kann nicht gänzlich anhand ihrer praktischen Konsequenzen gemessen werden. Menschen begehen Bösartigkeiten in dem Ausmaß, das ihnen zur Verfügung steht. . . . Sie tun, das, womit sie durchkommen.

[ . . .]

Statt eines einzigen Diktators gibt es tausende [Hervorhebung R.G.], wovon jeder der absolute Herrscher in seiner eigenen kleinen Sphäre ist, seine Macht begrenzt durch die Nähe eines ihm gleichen anderen. . . . Gewissensbisse gibt es nicht, nur eine Restangst vor den Konsequenzen, sollte man zu weit gehen.

Vielleicht die alarmierendste Eigenschaft dieser niedrigen aber endemischen Bösartigkeit ist, daß sie [im Gegensatz zu Bösartigkeiten in staatlichen Diktaturen] nicht erzwungen, spontan stattfindet. . . . Die Bösartigkeit kommt aus freien Stücken zustande.
[. . .]

Damit ist nicht gesagt, daß die hiesige Regierung in dieser Angelegenheit schuldlos ist – nicht im geringsten. Intellektuelle stellten Ideen zur Debatte, daß der Mensch von den Fesseln sozialer Konventionen und Selbstkontrolle befreit werden solle, und die Regierung, ohne daß jemand von unten das verlangt hätte, verabschiedete Gesetze, die zügelloses Verhalten förderte und ein Wohlfahrtsystem erzeugte, das Menschen vor einigen ökonomischen Folgen jenes Verhaltens beschützte.

Dalrymple bringt dann einige Beispiele aus seinem Berufsleben vor, die, wenn auch nicht repräsentativ, in ihrer anekdotischen Natur dennoch einen Einblick in die Krankheit erlauben, die in zahllosen mehr oder weniger versteckten Ecken der westlichen Zivilisation eitert.

Und das schlimme an der Situation ist, daß die meisten Opfer/Täter (meist sind sie ja irgendwie beides zugleich) sich der eigenen Verantwortung völlig bewußt sind und dennoch nicht die geringste Mühe geben, aus dem Teufelskreis herauszubrechen. Frauen lassen sich immer wieder mit der gleichen Art von gewalttätigen, verantwortungslosen Mann ein, auch wenn sie schon drei Kinder von drei verschiedenen Männern haben. Männer verlassen immer wieder ihre Frauen und Kinder, im vollen Bewußtsein, daß sie sie einem Leben in Gewalt und Elend ausliefern.

Dalrymple beschreibt dann die praktischen Konsequenzen einer extrem hohen Zeitpräferenz unter seinen Patienten:

Dies ist in Wahrheit nicht so sehr die Banalität sondern die Frivolität des Bösen: Die Aufwertung des vergänglichen Vergnügens für sich selbst über das langfristige Elend anderer, denen gegenüber man pflichtschuldig ist. Welch besserer Begriff als die Frivolität des Bösen beschreibt das Verhalten einer Mutter, die ihr 14-jähriges Kind vor die Tür setzt, weil ihr neuester Freund ihn oder sie nicht im Hause haben will? Und welch besserer Begriff beschreibt die Einstellung jener Intellektueller, die in diesem Verhalten nichts als eine Ausweitung menschlicher Freiheit und Auswahl sehen, einen weiteren Faden im reichhaltigen Bildteppich des Lebens?

[. . .]

Das Ergebnis ist eine steigende Flut der Vernachlässigung, der Grausamkeit, des Sadismus, und freudiger Bösartigkeit, die mich überwältigt und entsetzt. Ich bin nach 14 Jahren mit mehr Grauen erfüllt als am Tag, als ich [mit diesem Job] anfing.

Da früher, als die Menschen insgesamt ärmer waren, es ein solches Ausmaß an Gewalt in der Gesellschaft nicht gab, was sind statt dessen die Gründe für ihre Zunahme heute?

Eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist der Wohlfahrtsstaat, der solches Verhalten ermöglicht und manchmal sogar vorteilhaft macht.

Die hinreichende Bedingung komme durch den Glauben zustande, daß es moralisch erlaubt sei, sich so zu verhalten.

Und diese Idee ist von der intellektuellen Elite Großbritanniens seit Jahren verbreitet worden, eifriger als sonst irgendwo, in dem Maße, daß sie jetzt für eine Selbstverständlichkeit gehalten wird. Es hat einen langen Marsch nicht nur durch die Institutionen gegeben, sondern auch durch den Geist der jungen Menschen. Wenn junge Menschen sich loben wollen, beschreiben sie sich als "nicht beurteilend" ["nonjudgmental"]. Für sie ist die höchste Form der Moral die Amoral.

Es gibt eine unheilige Allianz zwischen jenen auf der Linken, die glauben, daß der Mensch mit Rechten aber nicht mit Pflichten ausgestattet ist, und jenen Libertären [die Dalrymple "rechts" auf der politischen Achse ortet, aber das ist nebensächlich], die glauben, daß die Konsumentenwahl die Antwort auf alle sozialen Probleme ist, eine Idee, die von der Linken eifrig in genau den Feldern angewendet wurde, wo sie keine Anwendung finden kann.

[. . .]

Die Konsequenzen für die Kinder und die Gesellschaft werden nicht debattiert: denn in jedem Fall ist es die Funktion des Staates, die materiellen Auswirkungen der individuellen Verantwortungslosigkeit auszubügeln sowie die emotionalen, bildungsmäßigen und spirituellen Auswirkungen durch eine Armee von Sozialarbeitern, Psychologen, Erzieher, Berater u.ä., die selber ein starkes Eigeninteresse an der Abhängigkeit vom Staat haben.

[. . .]

Letzten Endes ist es die moralische Feigheit der intellektuellen und politischen Eliten, die für jene andauernde soziale Katastrophe verantwortlich ist, die Großbritannien eingeholt hat, eine Katastrophe, deren vollständige sozialen und ökonomischen Konsequenzen noch auf uns zukommen. Ein starker wirtschaftlicher Abschwung würde aufdecken, wie sehr die Politik einer Reihe von Regierungen, die alle die Zügellosigkeit förderten, die britische Gesellschaft atomisiert haben, so daß jegliche soziale Solidarität innerhalb von Familien oder Gemeinden, die in schweren Zeiten so schützend wirken, zerstört worden ist. Die Eliten können noch nicht mal einräumen, was geschehen ist, denn das zu tun würde bedeuten, ihre Verantwortung dafür in der Vergangenheit zuzugeben, und das würde ihnen ein ungutes Gefühl geben. Da ist es besser, Millionen leben im Zustand des Elends und der Verwahrlosung, als das sie Gewissensbisse haben – ein weiterer Aspekt der Frivolität des Bösen.