Wednesday, November 09, 2005

"Alles fließt" ... wirklich alles?

Laut Alexander Solschenizyn ist die "Seele des Marxismus" der dialektische Materialismus. Wie John Laughland erläutert, besagt diese Doktrin, die von Hegel und letztlich von Heraklit hergeleitet ist, daß die Welt in ständigem Wandel begriffen ist (panta rhei – alles fließt), daß nichts absolut wahr oder falsch ist, und daß alles mit allem zusammenhängt. Folglich, so Laughland, ist nach marxistischer Auffassung "permanente Revolution der natürliche Zustand der Realität, und daher der Politik. Weil Wandel der natürliche Zustand ist, argumentierten Marx, Engels und Lenin, daß alle festgesetzten Formen politischer Assoziation, also der Staat, repressiv seien, und daß der Mensch nicht frei sein würde bis der Staat selbst 'abgestorben' sei."

Während Laughland sich im oben gelinkten Artikel hauptsächlich damit befaßt, wie sehr doch die Neokonservativen ihren marxistischen Wurzeln treu geblieben sind (Titel: "Full Marx for Bush"), zitiere ich den obigen Absatz, weil hier eine Ähnlichkeit zwischen der Auffassung der Marxisten und jener der Libertären aufgezeigt wird – eben jenen also, die sich oft als die schärfsten und konsequentesten Gegner der Marxisten verstehen. Die Gemeinsamkeit besteht im uneingeschränkten Glauben an das "panta rhei" und folglich der Ablehnung jeder "festgesetzten Form politischer Assoziation". Auch ich zähle mich zu den Libertären, gar zu den Anarchokapitalisten, aber mein Glaube an das "panta rhei" ist nicht uneingeschränkt.

Anstoß zur Modifizierung meiner Ansicht erhielt ich durch die Lektüre des Buches "Demokratie – Der Gott, der keiner ist" von Hans-Hermann Hoppe.

Hoppe hat ja in der libertären Gemeinde für viel Wirbel gesorgt. Inzwischen bin ich der Auffassung, daß es der uneingeschränkte, naive Glaube an das "panta rhei" ist, der bei vielen Libertären die heftige, ja emotionale Ablehnung seiner Thesen ausgelöst hat. Vieles wird an Hoppe kritisiert, aber bei aller Kritik, die ich gelesen habe, ist mir noch keine vorgekommen, die das aufgriff, was ich für die wichtigste, wenn nicht gar die zentralste Erkenntnis und Aussage des Buches halte. Es geht um die Aussage zur "natürlichen Autorität" als unverzichtbare Grundlage der "natürlichen Ordnung", die Hoppe als "positive Alternative zur Monarchie und Demokratie" darstellt.

"Privateigentum, Produktion und freiwilliger Austausch [sind] die eigentlichen Quellen menschlicher Zivilisation [nicht Monarchie oder Demokratie]." (S. 162)


Der Begriff natürliche Ordnung beinhalte aber auch

"die Erkenntnis einer fundamentalen soziologischen Einsicht (welche übrigens auch dabei hilft festzustellen, wo genau sich die historische Opposition zur Monarchie auf einen falschen Weg begab): daß nämlich die Aufrechterhaltung und Wahrung einer auf Privateigentum basierenden Austauschwirtschaftsordnung als soziologische Voraussetzung die Existenz einer freiwillig anerkannten natürlichen Elite – eine nobilitas naturalis – benötigt.

Das natürliche Ergebnis freiwilliger Transaktionen zwischen verschiedenen Privateigentumsbesitzern ist entschieden unegalitär, hierachisch und elitär. Als Resultat eines weiten Spektrums menschlicher Talente werden in jeder Gesellschaft jeglicher Komplexität einige Individuen rasch den Status einer Elite erreichen. Aufgrund überlegener Leistungen hinsichtlich Vermögen, Weisheit, Mut oder einer Kombination davon werden einige Individuen 'natürliche Autorität' erlangen, und ihre Meinungen und Urteile werden weitreichenden Respekt genießen. Darüber hinaus werden, als Ergebnis selektiver Paarung und Ehelichung sowie der Gesetze bürgerlicher und genetischer Vererbung, die Positionen natürlicher Autorität wahrscheinlich von den Mitgliedern weniger 'adeliger' Familien eingenommen und innerhalb dieser Familien weitergegeben. Es sind die Oberhäupter solcher Familien, mit lang etabliertem Ruf überlegener Leistung, mit Weitblick und beispielhafter persönlicher Führung, an die sich Menschen mit ihren Konflikten und gegenseitigen Beschwerden wenden. Es sind solche Führer, die typischerweise als Richter und Friedensstifter wirken, oft kostenlos, aus einem von einer Autoritätsperson verlangten und erwarteten Pflichtbewußtsein heraus oder gar aus prinzipieller Sorge um Gerechtigkeit als privat produziertes 'öffentliches Gut'." (S. 162/63)


Ich vermute, daß einige Libertäre nicht gerne mit der Vorstellung von der Existenz eines Fixpunktes im "panta rhei" leben wollen, aber keine wirksame Widerlegung der Existenz der "natürlichen Autorität" finden und deshalb die Auseinandersetzung mit diesem Punkt der Hoppe'schen Argumentation scheuen.

Aus der Wikipedia-Seite über Heraklit entnehme ich übrigens, daß die Marxisten ihn als "notwendig naiven, hilflosen, aber der Sache nach richtigen" Apostel ihrer Anschauung betrachteten. Dabei sah aber auch Heraklit einen absoluten Fixpunkt, nämlich den "Logos ... das Prinzip der Welt (dem sogar noch die Götter unterworfen sind, wie er schreibt) ... das 'Eine', das im Wandel des Werdenden Bestand hat." Da fragt sich doch, angesichts der historischen Entwicklung des Marxismus, wer da wirklich der Naive war.

Noch ein letzter Gedanke: Dieser Logos "besteht für Heraklit im Streit ('polemos'), der der 'Vater aller Dinge' ist", schreiben die Wikis, und damit komme ich zum Punkt "natürliche Autorität" zurück, an die sich Streitenden zwecks Schlichtung richten. Genauso wie es nur erzwungenen oder freiwilligen Tausch gibt, gibt es nur erzwungene oder freiwillige Streitschlichtung. Genauso, wie sich im freiwilligen Tausch ein "marktfähigstes" Gut herauskristallisiert (natürliches Geld), kristallisiert sich in der freiwilligen Streitschlichtung ein "marktfähigstes" Recht heraus. Dieses wird in einer "natürlichen Ordnung" von jenen gefunden und verwaltet, die dazu vom Markt den Auftrag bekommen. (Spreche ich jetzt von Geld oder von Recht? Von beidem.) Und das werden langfristig nicht diejenigen sein, die es verscherbeln, unterschlagen oder inflationieren, sondern diejenigen, die seinen Nutzen mehren. Es werden nicht diejenigen sein, die sich durch auffällige Charakterschwächen auszeichnen, sondern diejenigen, die durch Tugenden wie Selbstdisziplin, Ehrlichkeit, Fleiß, Umsichtigkeit und Rücksicht anderen gegenüber auffallen.