Thursday, July 07, 2005

Kapitalismus läßt bürgerliche Werte zur Geltung kommen

Michael Kastner behauptet in der Freiheitsfabrik, daß "[k]eine Macht der Welt, auch nicht der Sozialismus, ... die sog. traditionellen bürgerlichen Werte mehr zerstört [hat] als der freie Markt."

Die Beispiele, die er aufführt, überzeugen aber nicht. Das "bürgerliche Ideal", das er – etwas karikierend – beschreibt, konnte überhaupt erst aufgrund der durch die im 19. Jahrhundert freigesetzten Kräfte des Kapitalismus annähernd realisiert werden. Der Wohlstand ermöglichte es, daß ein einziges Einkommen reichte, um eine Familie zu ernähren und nicht wie zuvor zwei, oder noch mehr (also Ehefrau plus Kinder). Dies setzte Zeit und Ressourcen frei für eine weite Verbreitung von Bildung, Kultur, kultivierter Manieren, Großzügigkeit und der Beschäftigung mit den Sinnfragen des Lebens.

Der Rückzug des Staates erlaubte die Entdeckung einer individuellen Freiheit, die mit individueller Verantwortung gepaart war. Erst mit der Wiederenddeckung der "paternalistischen Fürsorge" (ein bürgerlicher Wert laut Kastner) durch den Staat, angefangen mit der Bismarck'schen Rentenverssicherung und dem staatlichen Schulzwang, setzte ein Prozeß der Entkoppelung von Freiheit und Verantwortung ein, der noch nicht beendet ist. Die "68er" stellen nur einen, wenn auch sehr bekannten und auffälligen, "Schub" in dieser Entwicklung dar.

Ein anderer, sehr wichtiger Schub war die Entkoppelung des Geldes vom Realwert Gold zu Beginn des ersten Weltkrieges. Die ursächlich daraufhin einsetzende Inflation zerstörte den Wert der individuellen Zukunftsgerichtetheit, also des Sparens (ein anderes Wort für Konsumverzicht) und der Investition. Zerstört wurden somit auch der Sinn für die Notwendigkeit, auf Freizeit und Geld zugunsten der Betreuung und Erziehung eigener Kinder zu verzichten. Oder nicht der Versuchung nachzugehen, die Ehe (öffentlich) zu brechen (d.h. sich scheiden zu lassen), wenn das Privatleben mal nicht so rosig ist.

Der Vorgang des Kapitalismus bedarf keiner Führerschaft, schreibt Kastner. Und: Die Zukunft ist unsicher. Das ist den Akteuren nicht unbekannt. Und hier setzt eine Dynamik ein, die Kastner m.E. übersieht. Denn gerade wegen der Unsicherheiten der "kapitalistischen" Freiheit schaffen sich die Menschen auch unter freien Marktbedingungen Institutionen, um sich abzusichern. Der Weg, der seit Bismarck (wieder) beschritten wird, heißt Staat, also Absicherung unter Aufgabe der individuellen Verantwortung – und damit langfristig die Abtötung des Marktes. Auch das ist eine Form der Freiheit, nämlich die Freiheit des Sklaven. Ein anderer Weg, der auch in Deutschland für kurze Zeit beschritten wurde, führte unter relativ staatsfreien Umständen zu Privatschulen, Privatversicherungen, und eben auch einer starken (d.h. eng vernetzten) bürgerlichen Familie (offenbar von vielen als "bessere" Versicherung angesehen, als sich allein auf Versicherungsunternehmen zu verlassen).

Daß dieses Familienmodell durch eine globalisierte Wirtschaft des freien Handels zerstört werde, wie Kastner behauptet, vermag ich nicht zu sehen. Der Handel war vor 1914 mindestens ebenso frei wie heute. Daß sie durch Krieg, Inflation und durch Gesetze, die individeulle Verantwortung künstlich verteuern, zerstört werden, also durch Staatstätigkeiten, leuchtet mir dagegen unmittelbar ein.

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